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Comic Review: Vakuum

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Erwachsen werden kann mitunter ein schwieriges Unterfangen sein, nicht zuletzt dann, wenn man in einem Umfeld aufwächst und heranreift, das einen ständig in seinem Entfaltungsprozess hemmt und einschränkt. Identitäten wollen konstruiert werden,  doch in den engen Grenzen des Vakuums aus kleinbürgerlichem Sicherheitsstreben, trostloser Vororts-Fassade, unbarmherziger Langeweile und gefühltem Identitätsverlust, bleibt einem letztlich nur die Flucht – und dazu bedarf es manchmal besonders radikaler Maßnahmen – vielleicht sogar nicht weniger als den eigenen Untergang.

Mit Vakuum ist dem jungen Autor und Zeichner Lukas Jüliger (Jahrgang 1988), Student der Illustration an der HAW Hamburg, ein beeindruckendes und ziemlich reifes Debüt gelungen – Ein sensibles Coming of Age-Drama, welches gleichsam zerbrechlich wie destruktiv anmutet – Die Akteure in diesem Album sind, obwohl in der Blüte ihrer jungen Jahre stehend, alle mehr oder minder kaputt und laufen mal zweifelnd, mal unbeirrt ihrer persönlichen suburbanisierten Apokalypse entgegen.

„Meine Mutter hatte mir an diesem Morgen Mitnehmbrote gemacht. Damit hatte sie aufgehört, als ich zehn geworden war. Keine Ahnung. Vielleicht hätte mich das nachdenklich machen sollen.“

Ein ganz banaler und nebensächlicher Gedankengang, der nicht nur einen expositionellen Charakter hat, sondern tatsächlich die letzten Tage einer Kindheit vorwegnimmt.  „Vakuum“ kreist um die Geschichte dreier Jugendlicher in der Woche eines noch jungen Sommers.

Der namenlose Hauptprotagonist ist ein angeödeter Gewohnheits-Slacker, der das Leben im Kleinstadt-Mikrokosmos routinemäßig an sich vorbeiziehen lässt. Es gibt nicht vieles, über das er sich Gedanken macht, auch nicht über seinen Klassenkameraden Ben Fimming, der eines Morgens mit seiner Matratze in den Wald geht, um zu sterben. Sein japanisch stämmiger Kumpel Sho indes ist ebenfalls zu einem kompletten psychischen Wrack „verkommen“, welches die Welt nach einer drogeninduzierten Psychose scheinbar nur noch hinter einem dichten Schleier wahrzunehmen vermag. Der triste Alltag  hellt sich ein wenig auf, als eine schmale Schönheit in das Leben des  Spandexhosenträgers- und Kapuzenhoodyveteranen tritt – Eine zaghafte Beziehung erblüht zwischen den beiden, die aber durch ihr ständiges wortloses Verschwinden getrübt wird. Ein Umstand, welcher einer mysteriösen feuchten (?) Spalte geschuldet ist, die im Fußboden eines verlassenen Wohnwagens mitten im Wald verborgen liegt. Dazwischen gibt es eine geheime und zutiefst inoffizielle Leichenbeschau, eine äußerst hässliche Vergewaltigung und dann wäre da noch Ben Fimmings großer Bruder Jano, der das Ende der Welt prophezeit.

Mit Vakuum hat Lukas Jüliger ein bedrückendes Machwerk erschaffen, welches seine Akteure in einem undurchsichtigen und kafkaesken Alptraum gefangen hält. Die engen Grenzen der Vorstadt bilden auch die Grenzen der Handlungsmöglichkeiten. Anonym und unbarmherzig thront das Unheil, die emotionale Apokalypse über dem sauberen Asphalt und den sorgfältig geschnittenen Grashalmen der Vorgärten. Die Menschen benehmen sich seltsam – Amok und Selbstzerstörung als Mittel zur  reinigenden Katharsis:

„Wieso hat er Lea Shavano in den Hals gefickt und Selbstmord begangen? ‚Ja. Das.‘ Weil mein Bruder lieber noch etwas Schönes erleben und allein sterben wollte, anstatt auf die Apokalypse zu warten.“

Die Graphic Novelle findet ihre Verwurzelung im US-amerikanischen, indiesken Coming of Age-Film. Überall kann man Parallelen etwa zu Richard Kellys Endzeitdrama Donnie Darko oder zu den umstrittenen Werken von Larry Clark (z.B. Ken Park) ziehen – zumindest atmosphärisch und stimmungsmäßig ist „Vakuum“ sehr nah dran an den Vorbildern, wenngleich das Buch sich auch zu jedem Zeitpunkt seine eigenen Trademarks bewahrt. Man merkt einfach, dass Autor Jüliger mit ganz viel Herzblut einen sehr einfühlsamen und zuweilen äußerst verstörenden Blick auf das Erwachsenwerden wirft, einen Blick, der bis zu einem gewissen Grad auch aus den Erinnerungen an die eigene Jugend schöpft. Obwohl alle entworfenen Charaktere scheinbar dem Untergang geweiht sind, ist es nicht so, dass Jüliger seine Figuren ganz plakativ und zynisch vorführt, als wären es Rinder auf dem Weg zur Schlachtung. Speziell in der Darstellung der aufkeimenden und zarten Bindung der beiden Hauptfiguren zeigt sich die Empathie, die Jüliger für seine vielschichtig angelegten Figuren hegt. Als Leser gönnt man den beiden dann schlussendlich auch den Ausbruch aus diesen starren Strukturen, aus diesem Vakuum, das keinen Platz zum Träumen und zur Selbstverwirklichung lässt. Umso schockierender wirkt dann der tatsächliche Ausbruch. Es ist jedenfalls ein Ende, welches noch lange im Gedächtnis des Lesers bleiben wird.

Auch illustrationstechnisch braucht der Autor sich nicht vor der Konkurrenz zu verstecken. Jüliger hat den gesamten Band in kompletter Eigenregie geschrieben, gezeichnet, geinkt und koloriert.  Die Umgebungsgrafiken wirken gleichsam abstrakt wie detailverliebt, die Charaktere schlaksig, spindeldürr und sehr androgyn anmutend. Bleistiftschraffuren und eine sparsame Kolorierung bestimmen die emotional äußerst aufgeladene Bildsprache.  Die grau- und blaulastigen Pastelltöne produzieren eine allgemein recht kühle und reservierte Stimmung, vermitteln irgendwo aber auch ein Gefühl der Geborgenheit, nicht zuletzt auch wegen des ansprechenden Handletterings in Schreibschriftform. Jüligers Stil ist ein raffiniertes Spiel mit der Verknüpfung scheinbar ambivalenter Dinge. Es ist jene markante Widersprüchlichkeit, die auch die Einzigartigkeit des Gesamtwerkes ausmacht.

Auch die äußere Aufmachung kann sich sehen lassen. Das Album wird von Reprodukt als hochwertige Paperback-Edition veröffentlicht. Die Zeichnungen kommen auf dem dicken und matt glänzenden Papier ganz wunderbar rüber. Auch an dieser Stelle gibt es also nichts zu beanstanden

Fazit: Mit Vakuum haben Lukas Jüliger und der Reprodukt-Verlag ein intelligentes und vielschichtiges Comicdebüt hervorgebracht. Es ist eine beinahe existenzialistische Geschichte über Freundschaft, Liebe, Verwirrung, Flucht und Selbstaufgabe. Ein zutiefst sensibles wie brutales Machwerk, das den Mut hat, mitzureißen, rauszureißen, zu irritieren und zu bezaubern. Es ist ein comicgewordenes Abbild der Adoleszenz: Voll von (sexueller) Mystik und Geheimnissen, zugleich ein bedrohliches und verstörendes Ungetüm, dass sich von Zweifeln nährt, dass unerschließbar und hermetisch abgeriegelt scheint.  „Vakuum“ ist sensationell!

ISBN 978-3-943143-15-7

Umfang: 128 Seiten, farbig

Maße: 18,5 x 27 cm

Klappenbroschur

Preis: 20 EUR, erschienen bei Reprodukt

 

Vakuum
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