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Unravel im Test – Wollknäuel mit Wohlfühleffekt

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Wer Unravel spielt, will schon nach kurzer Zeit raus aus der Bude. Aber nicht weil das Spiel schlecht wäre – sondern weil es so schön ist. Vom Spiel mit dem Charakter eines Naturburschens.

Wir fühlen uns unweigerlich an unsere Kindheit erinnert. Die Besuche bei den Großeltern, die Waldspaziergänge, die wohlige Sorglosigkeit des Sandkastenalters. In den ersten Spielstunden liefert Unravel diesen wohligen Mix aus Freiheit und Unbekümmertheit der Tage, an denen man die Geschwister in die Pfütze geworfen und man selbst gleich hinterher gesprungen ist. Doch das wahrhaft Meisterliche ist, das Unravel nicht dabei bleibt, sondern sich Schritt für Schritt nach vorn wagt – ohne dabei an Anziehungskraft zu verlieren oder einem mit dem moralischen Zeigefinger auf den Keks zu gehen.

Yarny - Das tapfere Wollwesen ist Sammler von Erinnerungen
Yarny – Das tapfere Wollwesen ist Sammler von Erinnerungen

Eingewickelt

Noch dazu liefert uns Unravel einen der authentischsten Charaktere der jüngeren Spielgeschichte. Und das ohne aufwendige Hintergrundgeschichte, lange Dialoge oder große Textfelder. Der Hauptcharakter spricht nicht einmal ein Wort – er ist nicht einmal ein Mensch. Aber das Männlein aus roter Wolle ist uns vom Fleck weg sympathisch und hat uns spätestens ab dem Punkt um den kleinen Finger gewickelt, ab dem es staunend einem Schmetterling hinterher blickt. Ohnehin ist es ein Meister des Mimen- und Gestenspieles. Vom verschreckten Blick bei der Konfrontation mit wütenden Krebsen, dem unwohligen Zittern des allein gelassenes Wollhaufens im tosenden Sturm oder dem faszinierten Gesichtsausdruck bei der ersten Begegnung mit echtem Schnee – wir kaufen diesen Knopfaugen alles ab.

Dem Winzling ist sichtlich unwohl
Dem Winzling ist sichtlich unwohl

Tarzan aus Wolle

„Yarny“ haben die Entwickler vom Studio Coldwood Interactive diesen so einprägsamen Charakter getauft. Die allmächtige Internetgottheit Leo meint dazu Yarn: Garn oder Faden, aber auch Seemannsgarn. Letzteres liefert Unravel aber ganz und gar nicht – das Spiel ist absolut glaubwürdig. Mit Garn und Faden lässt sich dagegen eher etwas anfangen, denn der Hauptcharakter besteht aus rotem Wollwust und hüpft mit dessen Hilfe durch die verschiedenen Level. Yarny zieht sich wie ein roter Faden (Höhöhö, kreatives Schreiben) durch die einzelnen 2D-Sidescroller-Passagen. Allerdings ist der rote Faden gar nicht soweit hergeholt, denn ohne den geht nichts. Reißt er einmal, ist’s aus mit dem Wollmann.

Gleichzeitig ist er aber auch des Garns Allzweckwerkzeug. Ein Schweizer Taschenmesser sieht dagegen reichlich rostig aus. An ziemlich vielen Stellen glitzert die Spielewelt: Baumwipfel, schartige Nägel, kantige Steine, alles woran man ein Stück Zwirn befestigen kann. Mit einem flinken Wurf des Fadenendes ist Yarny festgewickelt – und werkelt je nach Situation ein anderes Gadget aus dem roten Stoff. Das Repertoire umfasst Brücken, Lianen, Flaschenzüge, Trampoline und vieles mehr. Und die sind auch bitter nötig. Denn unser Protagonist ist ein wahrer Däumling. Der Wollzwerg misst vielleicht gerade mal so viel wie eine Hand. Schubkarren, Baumstämme oder gar Sonnenblumen werden ohne Kreativität zu unüberwindlichen Hindernissen. Ganz zu schweigen von Baukränen, Motorbooten und Stromleitungen. Der schwingende Wolltarzan ist von daher nur eine Möglichkeit zur Hindernisbewältigung. Aber sicherlich eine der schönsten.

Master of Wollmanagement

Allerdings kann sich die schönste Kombination von akrobatischen Flugeinlagen relativ schnell in einen unangenehmen Absturz verwandeln. Denn der Faden ist nicht unendlich. Yarny kämpft sich stets von links nach rechts über unseren Bildschirm und rollt sich kontinuirlich ab. Irgendwann ist das Fadenende erreicht und bevor es ihm an den Kragen geht, streikt der Fadenmann lieber. Also heißt es unterwegs Wolle sammeln. Glücklicher- und unerklärlicherweise liegen über die gesamten Level überall Garnfetzen verteilt. Jeder von ihnen kennzeichnet das Ende und den Anfang einer neuen Passage. Bei richtigem Fadeneinsatz reicht der Zwirn auch bis zum nächsten Wollrest. Das ist fair und erspart es einem, die später recht langen Level komplett auf und ab rennen zu müssen. Gleichzeitig fungieren die Garnstationen auch als Speicherpunkte, sollte die Natur wieder etwas gegen kreatives Stricken gehabt haben.

Viele Rätsel fordern sorgfältigen Umgang mit Yarnys Garnmenge - Das Männchen hängt sprichwörtlich am seidenen Faden
Viele Rätsel fordern sorgfältigen Umgang mit Yarnys Garnmenge – Das Männchen hängt sprichwörtlich am seidenen Faden

Wunderschöne, widerspenstige Natur

Man merkt dem Spiel an, dass es von Schweden entwickelt wurde. Und das liegt nicht nur an den gelegentlichen schwedischen Schriftzügen im Spiel. Blockhäuser und Landschaftsbilder: Alles scheint direkt der Feder Astrid Lindgrens entwachsen zu sein. Man bekommt sofort Lust, den Controller beiseite zu legen und selbst sich auf Wanderung zu begeben – wären da nicht die ansprechenden Rätsel, die uns als Motivationsmaschine ständig vor die Rübe gehalten werden. Die geraten vor allem angenehm abwechslungsreich. Zwar erfindet Unravel das Rad dabei nicht komplett neu, aber noch nie wurde Wolle so schön, vielseitig und notwendig eingesetzt um beispielsweise ein Motorboot zu starten. Allerdings liefern die Level nach einmaligem Durchspielen wenig Wiederspielwert. Lediglich je fünf „Geheimnisse“, die alternative Routen verlangen, gibt es pro Passage. Damit lässt sich jedoch nichts erbeuten, was einem großes Feedback oder später gar Vorteile bietet. Das hätte etwas kreativer ausfallen können.

Ein anderer, wenn auch gemäßigter Kritikpunkt betrifft bestimmte Passagen, die den Spieler auflaufen lassen. Es ist an einigen Stellen nahezu unmöglich, die Level ohne Kenntnis des Kommenden zu meistern. Wer hätte denn erwartet, dass uns dieser niedliche Berglemming (jawohl, das haben wir eigenhändig recherchiert! Danke, wiki^^) zu Wollfetzen verarbeitet? Oder das dieser malerische Berghang uns gleich einen unliebsamen Fünf-Zentner-Stein entgegen sendet? Manchmal waren wir jedoch auch einfach vom schönen Leveldesign zu abgelenkt. Das hat Yarny schon mal den ein oder anderen Faden gekostet.

Manche Tiere wie dieser Berglemming (Buuh, Berglemminge!) haben etwas gegen kreatives Stricken - und gegen Pilzsporen
Manche Tiere wie dieser Berglemming (Buuh, Berglemminge!) haben etwas gegen kreatives Stricken – und gegen Pilzsporen

Zumeist springt Unravel jedoch fair mit den Spielern um. Dabei ist es kein Darksouls, aber auch kein Ponyhof. Wer nicht wenigstens ein bisschen Gedankenschmalz mitbringt, sollte vielleicht doch lieber einmal selbst raus an die frische Luft.

Tiefgründiger als erwartet

Für alle anderen bieten die einzelnen Level wunderbaren Rätsel-, aber auch Reaktionsspaß. Das Spiel verzichtet dabei auf jegliche Gewaltanwendung (na gut, den einen Krebs mussten wir einsperren) und ist damit für alles und jeden zwischen drei und 299 Jahren geeignet. Wer jedoch bei der Kinderfreundlichkeit seichten Spieleinhalt erwartet, der ist schief gewickelt. Zwar befasst sich das Spiel auch mit Kindheitserinnerungen, beschäftigt sich dabei gleichzeitig auch mit komplexen Themen wie Abschied, Naturverschmutzung, Tod, Altern oder Entscheidungen, ohne jedoch zu große Töne spucken zu wollen. Soviel Varianz hätten wir dem Wollmännlein eigentlich gar nicht zugetraut, aber Unravel vereint die einzelnen Elemente wunderbar und unaufdringlich.

 Unravel ist immer detailverliebt und wirkt oft wie gemalt
Unravel ist immer detailverliebt und wirkt oft wie gemalt

Auf nach Schweden!

Vor allem macht Unravel jedoch Spaß und bereitet einem Lust: Lust aufs Zocken, Lust auf die Natur, Lust auf Schweden. Man hat eigentlich immer irgendwie gute Laune. Dies liegt dabei nicht zuletzt an der stimmigen, musikalischen Untermalung, die auf jeden Fall nochmal Erwähnung finden muss. Und wenn wir demnächst dann doch nach Schweden aufbrechen, sind die Tracks auf jeden Fall auf unserer MP3-Liste.

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Unravel
  • 10/10
    Atmosphäre - 10/10
  • 8/10
    Gameplay - 8/10
  • 7/10
    Story - 7/10
  • 7/10
    Innovation - 7/10
  • 7/10
    Abwechslung - 7/10
  • 9/10
    Umfang - 9/10
8/10

Fazit

Unravel ist ein Trip, der einen für kleines Geld ziemlich lange unterhält. Es ist kurzweilig und im Großen und Ganzen ein hervorragendes Gute-Laune- und Wohlfühlprogramm. Eigentlich sind die Abenteuer des Wollmännchens für alle geeignet, die sich nach einem bisher wenig bespielten Setting sehnen und Lust an Rätseln und auf Spielwitz haben. Haudraufburschen, die immer Action brauchen, sollten eher nicht zugreifen – es sei denn sie wünschen sich einen entspannenden und ansprechenden Kontrapunkt, der aber auch ab und an Gedankenschmalz fordert.

Plattformen: PC, PS4, Xbox One
Spielbar: ab sofort

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